Am 30. August 1939 steht die Welt kurz vor dem Ausbruch des schrecklichsten Krieges aller Zeiten. Alle Anzeichen weisen immer deutlicher darauf hin, dass die blutige Apokalypse unmittelbar bevor steht: gewaltige Armeen der Deutschen sind an der polnischen Grenze versammelt, der Ton aus Deutschland wird immer rauer. Der Kriegsbeginn ist nur noch eine Frage der Zeit, einer sehr kurzen Zeit, dessen ist sich der polnische Generalinspektor Edward Rydz-Smigly, sicher. Eines Krieges, der bei nüchterner Beurteilung den unterlegenen polnischen Streitkräften keine Chancen läßt.

Blick von „Blyskawica“ auf „Grom“ und „Burza“ bei der Flucht

Die polnische Marine steht vor einer besonders gefährlichen Situation: die Ostsee ist flach und klein. Polen selbst hat nur einen kleinen Zugang zu Meer, praktisch die gesamten Seestreitkräfte sind in nur einem einzigen Hafen konzentriert, leicht erreichbar für den Gegner. Es gibt kaum Platz für ausgefallene Taktik auf der engen See. Vor allem die vier modernen Zerstörer: „Wicher“ (Sturmwind), „Blyskawica“ (Blitz), „Grom“ (Donner) und „Burza“ (Gewitter), die Hauptkraft der polnischen Marine neben dem Minenleger „Gryf“ stehen in ihrem Hafen wie auf dem Präsentierteller. Kommt es tatsächlich zu Kriegshandlungen, ist es nur eine Frage der Zeit bis die überlegene Kriegsmarine und die Luftwaffe diese versenken und damit die polnischen Seestreitkräfte zerstören.

Bereits im Mai 1939, angesichts des Paktes zwischen Polen und Großbritannien, fällt die Entscheidung, im Falle eines Krieges die Zerstörer aus der Ostsee herauszubringen und nach England zu lotsen, wo sie den Krieg weiter führen können. Vorbehalte gibt es keine, die Macht der Kriegsmarine mit ihren Panzerschiffen, Linienkreuzern, Zerstörern ist einfach zu überlegen, als dass jemand in der polnischen Admiralität sich Hoffnung auf positiven Ausgang der Schlacht machen kann. Nur wenn die stärksten Schiffe überleben und den Krieg weiter führen können, kann Polen dem Gegner weiter Widerstand leisten, trotz der zu erwartenden Niederlage.


Am 26. August 1939 wird der Plan „Nanking oder Peking“ als Befehl Nr. 1000 des Konteradmirals Unrug bestimmt. In seinem Rahmen sollen die drei Zerstörer: „Blyskawica“, „Grom“ und „Burza“ von der Ostsee flüchten. „Wicher“ soll bleiben, einerseits als Geleitschutz des Minenlegers „Gryf“, andererseits soll wenigstens einer der Zerstörer kämpfen können. Die Wahl fällt auf „Wicher“, da seine Maschinen dringend überholt werden müssen und eine Fahrt nach Großbritannien die Besatzung vor große Schwierigkeiten bringen würde.

Die Planversion „Pekin“ gab den Kapitänen freie Hand, was die Routenauswahl angeht. Die Version „Nankin“ hingegen bestimmte, dass die Schiffe zwischen Bornholm und Christianso nach Sonnenuntergang, bei Malmö gegen Mitternacht durchfahren sollten.

Die Zerstörer erreichen Firth of Forth

Angesichts der sich verschärfenden Lage fällt Rydz-Smigly am 30. August die Entscheidung, die Schiffe sofort zu entsenden. 12.55 zeigen Signalflaggen den Schiffen: „Dyon Kt. PEKING“

Bereits 14.15 brechen die drei Zerstörer auf unter der Führung von Kommander Roman Stankiewicz. Sie fahren stumm an „Wicher“ vorbei, deren Besatzung mit gemischten Gefühlen die flüchtenden Schiffe grüssen. Nur einige wenige Familienangehörige am Land bekommen den Aufbruch mit, der sie auf viele Jahre von Söhnen, Vätern und Ehemännern trennen wird, für manche wird es ein Abschied für immer. Aber auch auf den drei flüchtenden Schiffen ist die Stimmung ernst und traurig. Viele fühlen sich als Feiglinge, die ihre Freunde und Verwandte im Stich lassen. Allen ist bewusst, dass eine Zäsur bevorsteht: sollten sie jemals zurück kommen, wird ihre Heimat nie wieder so sein, wie sie in diesem Moment war, als ihre Uferlinie hinter dem Horizont verschwand.

Der erste Teil der Fahrt ist weitgehend ereignislos. Die Kriegsschiffe werden zwar durch U-31 sowie Vorpostenboot 7 entdeckt, aber die Begegnung verläuft noch friedlich. In der Höhe von Bornholm folgen plötzlich die deutschen Zerstörer „Friedrich Ihn“, „Erich Steinbrinck“, „Friedrich Eckoldt“ und „Bruno Heinemann“ aus großer Distanz dem Verband, ohne von der polnischen Besatzung entdeckt zu werden.

Im Sund treffen die Zerstörer auf den leichten Kreuzer „Königsberg“, einen Zerstörer und zwei Torpedoboote T 107 und T 111. Die Stimmung ist auf allen Seiten angespannt, alle Mannschaften sind auf Position, kampfbereit. Doch die Kriegsmarine bekam noch nicht den Befehl zum Angriff, beide Verbände fahren aneinander vorbei.

Am 31. August entdecken U-5 und U-19 die Zerstörer, kurze Zeit später auch zwei Wasserflugzeuge. Sobald Kommander Stankiewicz davon erfährt, befehlt er dem Verband nach Norwegen auszuweichen, um den Gegner zu täuschen.

Dass jeder Krieg auch ein Propagandakrieg ist, ist der deutschen Führung nicht fremd. Genüßlich teilt das deutsche Radio „Breslau“ in polnischer Sprache ihren Zuhörern mit, dass der Verband geflohen ist. Jedes Mittel, um die Moral des Gegners zu erschüttern, ist gut in diesem Krieg.

In der Nacht drehen die Zerstörer wieder auf Großbritannien. Kaum kommt die Sonne auf, erfährt die entsetzte Besatzung um 9.25 vom deutschen Überfall auf Polen. Jetzt ist Krieg. Die Besorgnis der Besatzung, die ihre Familien in Polen ließ, ist fast zu greifen, als HMS „Wanderer“ und HMS „Wallace“ gegen 12.58 die polnischen Schiffe in Empfang nehmen und ihren Radiooffizier, Kapitän Denis übersetzen. Wenige Stunden später erreicht der Verband Firth of Forth und wirf Anker in Edinburgh.

Die Flucht der Schiffe war lange Zeit Gegenstand kontroverser Diskussionen. Auf der einen Seite wurde der Führung Feigheit vor dem Feind vorgeworfen. Die Flucht drei der stärksten polnischen Schiffe angesichts des Krieges wirkte sehr demoralisierend auf polnischen Verteidiger. Andererseits, bei nüchterner Betrachtung war jedem klar, dass in den Kampfhandlungen die Zerstörer keine Chance hätten und sehr schnell versenkt werden würden. „Wicher“ und „Gryf“, die geblieben sind, wurden bereits am 3. September durch deutsche Bomber zerstört. An der Seite der Briten hingegen konnten die Zerstörer noch lange in den Krieg angreifen und massgeblich am Kampf gegen die Deutschen beteiligt werden. Spätere Flucht, bereits nach Beginn der Kampfhandlungen, wie es ORP „Orzel“ (U-Boot) geschafft hatte, war für Überwassereinheiten praktisch nicht realistisch möglich.
ORP „Blyskawica“ und „Burza“ überlebten den Krieg. Ihr Einsatz vor allem als Begleitschiffe der Konvois im Atlantik war legendär. „Blyskawica“ ist heute ein Museumsschiff der polnischen Marine und kann besichtigt werden. „Grom“ wurde durch deutsche Bomben 1940 bei Narvik versenkt.